Das wunderbare Holzschild

 

Besondere Plätze kann man in unserem Städtchen Wismar überall entdecken, vorausgesetzt die Augen sind für solche Schönheiten geöffnet und man rattert nicht gerade die nächste „WAS-ICH-NOCH- ALLES-ERLEDIGEN-MUSS-LISTE“ durch. Manch einer hat sogar einen Lieblingsplatz, an dem er zur Ruhe findet. Dieser hier ist meiner:

Es gibt einen Wanderweg, ca. sechs Kilometer lang, der um den Mühlenteich führt. Auf diesem Weg hat mich mein Opa damals schon mit dem Schlitten durch den Schnee gezogen, das ist nun fast dreißig Jahre her. Heute gehe ich denselben. Von der Arndtstraße stoße ich in die Lenensruhe, durchquere den Bahndamm und dann kann ich ihn durch ein paar alte beeindruckende Bäume schon glitzern sehen, „meinen“ Lenensruher Teich. Ich knicke rechts ab und verweile auf einer Bank im Grünen, von der aus man einen wunderbaren Blick auf den gesamten Teich hat. Man gönnt sich also ein Päuschen, nicht für die jungen Knochen - sondern für die Seele. Früher habe ich über ältere Menschen auf Parkbänken geschmunzelt. Heute verstehe ich.

 

Einige Minuten später überquere ich den Wallensteingraben über eine Brücke, schlendere noch einige hundert Meter durch einen moosigen Waldweg, komme links an einem Häuschen vorbei und kann zu rechter Hand schon eine kleine Wiese mit einem überdachten Rastplatz erkennen. Jemand - irgendjemand - hat hier ein Holzschild aufgestellt und den Platz „Orchideenwiese“ getauft. An diesem Schild hängt ein in Folie geschweißter Zettel mit der Überschrift „TUGENDEN“.

 

Hmmh. Das Wort klingt ziemlich altmodisch, hab ich schon mal gehört. Ich bin interessiert. Was ist das? Wie viele gibt es? Warum sind Tugenden überhaupt wichtig?

 

Weiterhin steht geschrieben: „Tugend heißt tauglich - sein - tauglich - werden! Tauglich für das Leben! Tauglich im Umgang mit meinen Mitmenschen, der Natur und den Tieren! Wie viele Dinge entscheiden wir heute noch aus dem Herzen heraus? Meistens ist es doch der kalte, berechnende Verstand, oder? In unserer heutigen Zeit interessiert sich kaum noch jemand für die Tugenden. Traurig, aber wahr!“

 

Der geheime Schreiber möchte sie einfach mal wieder ins Gedächtnis rufen, zum Nachdenken und zum Prüfen anregen. Es gäbe zwölf Tugenden. Er oder sie werde jeweils immer drei auf laminierten Zettelchen anpinnen. Ich solle die Tugenden auf mich wirken lassen, es müsse bei mir von innen herauskommen. Falls mich eine anspricht, kann ich sie gerne aus dem Plastikumschlag nehmen, der am Holzschild befestigt ist. Zu guter Letzt verabschiedet sich der Schreiberling mit den Worten:

„Wir verändern die Welt, indem wir uns verändern. In diesem Sinne viel Erfolg und alles Gute!“

Kein Name. Kein Absender. Nichts.

 

Wow. Ich muss mich erst mal setzen. Die Tugenden „Demut“, „Liebe“ und „Gerechtigkeit“ wurden schon angebracht. Ich denke über die tiefen Bedeutungen nach. Mittlerweile hängen drei weitere Tugenden aus: „Bescheidenheit“, „Geduld“ und „Weisheit“.

 

Was heißt „... falls mich eine Tugend anspricht ...“? Ist damit vielleicht gemeint, dass ich besonderen Wert auf eines dieser Potenziale lege? Sind diese Charakterqualitäten vielleicht schon in jedem Menschen von Geburt an vorhanden und müssen nur bei manchen geweckt, gestärkt oder erst entwickelt werden? Hmmh. Welche dieser drei Tugenden müsste ich bei mir selbst wohl erst wach kitzeln? Spontan nehme ich mir ein laminiertes Zettelchen, auf dem „Geduld“ geschrieben steht mit, da es mir daran in vielen Situationen sehr fehlt. Den Zettel packe ich mir in mein Portemonnaie und werde nun öfter daran erinnert - vor allem an der Kasse!

 

Aufgeregt schaue ich ab und an, ob schon etwas Neues ausgehängt wurde. Wenn ja, setze ich mich auf eine Bank und verinnerliche die drei neuen Tugenden. Wen dieser Mensch damit wohl noch so zum Nachdenken angeregt haben mag? Ich würde mich so gerne bedanken.

 

Einen Monat später stehe ich wieder an diesem Schild. „Gedenkanstöße zum neuen Jahr“ sind angebracht. Man solle prüfen, was man im alten Jahr gesät hat: Wahres Mitgefühl, Verständnis, Warmherzigkeit oder sogar Liebe? Ja? Nein? Ob es dann vielleicht Angst, Hass, Neid oder Unfrieden war? Was ich glaube, zurückzubekommen?

 

Ganz einfach: Ich bekomme das zurück, was ich gesät habe. Ein Naturgesetz. Das versuchte uns Jesus schon zu vermitteln. Wir sind für unsere Gedanken und Taten selbst verantwortlich.

 

Der Schreiber fragt nach: Was ist denn Angst? Eine Empfindung? Ein Gefühl? Warum habe ich Angst? Angst entsteht aus Unwissenheit. Ich solle die Aussage doch mal überprüfen. Wenn ich Angstgedanken aussende, was bekomme ich zurück? Wie wirkt sich das auf meinen Körper und meine Umgebung aus? Sollte ich nicht lieber bewusst meine Gedanken ins Positive lenken? Was denke ich eigentlich in jeder Sekunde, Minute oder Stunde? Ich solle mir mal richtig bewusst machen, wie festgefahren die Meinungsbilder sind. Sollte ich sie nicht hin und wieder mal überprüfen und sie aus einer anderen Sichtweise beleuchten? Ob ich das überhaupt noch könne, fragt er, ob ich noch so offen wäre, einen Rat oder Hinweis von einem anderen Mitmenschen anzunehmen. Dann lässt der Schreiberling mich und meine Gedanken allein und wünscht viel Erkenntniskraft für das neue Jahr.

 

So jetzt reicht ’s... Ich MUSS diesem Menschen für diese weisen, wohltuenden Gedanken mitten im Alltagsgeschehen danken. Wie finde ich bloß heraus, wer das geschrieben und hier angebracht hat? Unweit von der Orchideenwiese entfernt, steht ein einzelnes Häuschen, sonst nichts. Ob ich da mal klingeln gehe und nachfrage? Vielleicht ein anderes Mal. Heute traue ich mich noch nicht.

 

An einem sonnigen Mittwoch tragen mich meine Beine wie von selbst auf das große Grundstück mit dem einzigen Haus in der Nähe des Holzschildes. Am Wohnhaus angekommen, höre ich es um die Ecke klappern. Aufgeregt und weltoffen marschiere ich schnurstracks auf einen älteren Herrn zu, der im Garten arbeitet, stelle mich kurz vor und komme gleich zum Punkt: „Wissen Sie vielleicht, wer diese Zettel an dem Holzschild angehängt hat?“ Just in diesem Moment gesellt sich seine Frau in Schürze und Gummistiefeln zu uns. Ein altes, eigenbrötlerisches Pärchen antwortet im Chor: „Nein. Das wissen wir nicht.“ Der Mann ergänzend: „Wieso?“ Kurze Pause. „Ist das was Verwerfliches?“

 „Nein, im Gegenteil. Das ist etwas Wunderbares “

 Der Herr erzählt mir noch, dass das ÖSW (Ökologisches Schulungszentrum) in Wismar das Holzschild aufgestellt hätte und dass die Orchideenwiese eigentlich „Tessmersche Wiese“ heißt, wohl nach einem Herrn Tessmer benannt. „Das Schild wurde schon dreimal ins Gebüsch geschmissen“, fügt seine Frau noch hinzu. Wie achtlos manche Menschen mit Liebe und Mühe errichtete Dinge zerstören…

 

Nachdem ich mich freundlich verabschiedet habe, ruft er mir noch hinterher: „Was haben Sie eigentlich damit zu kriegen, wenn ich Sie fragen darf? Also, ich meine beruflich…?“

„Nein, nur privat. Ich möchte mich einfach bedanken.“

Trotz seines Fragezeichens auf der Stirn drehe ich mich um und trete meinen Weg an – lächelnd bei strahlendem Sonnenschein, mit einem wohligen Gefühl im Bauch. Ein bisschen stolz, den Mut gehabt zu haben, bei fremden Leuten zu klingeln und komische Fragen zu stellen. Und glücklich darüber, durch den Anhaltspunkt „ÖSW“ einen kleinen Schritt weiter zu sein.

 

So betrete ich das Gelände des Ökologischen Schulungszentrums an der Lenensruhe, wo auch ein Teil der Wismarer Altstadt in Miniatur aufgebaut wurde. Zwei freundliche Damen kommen mir entgegen. Wieder stelle ich meine Fragen. Das Holzschild hätten sie tatsächlich vor einiger Zeit mal dort aufgestellt und die Wiese wird auch von Mitarbeitern gepflegt, aber von irgendwelchen Zetteln wüssten auch sie nichts. Aber gut, ich habe es versucht.

 

So bleibt mir nur zu hoffen, dass der oder die geheimnisvolle Unbekannte vielleicht diese kleine Geschichte liest.

 

Danke für die wunderbaren Worte, die Sie hin und wieder so völlig selbstlos auf dem Schild der Orichideenwiese anbringen - keinen Dank und keine Anerkennung erwartend, anscheinend aus Freude am Leben…

 

-Madleen -

 

(2014 veröffentlicht im Buch "Wismarer Stadtgespräche II" vom Bibliotheksverein - Förderverein der Stadtbibliothek Wismar e.V.)